Ist das denn gerecht?

Liebe Schwestern und Brüder,

heute sind Bundestagswahlen. Ausgerechnet an diesem Sonntag hören wir das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Doch sie brauchen keine Sorge zu haben: Ich werde ihnen jetzt keine Wahlempfehlung geben. Weder was und wen sie wählen sollen noch was oder wen sie auf keinen Fall wählen sollen. Für ihre Entscheidung brauchen sie mich nicht. Es soll vielmehr um das Gleichnis gehen, das wir gerade gehört haben.

Das Setting im Gleichnis ist ganz einfach und für die Menschen zur Zeit Jesu ganz gewöhnlich. Arbeiter und Angestellte, so wie wir das heute kennen, gab es zur Zeit Jesu nur ganz wenige. Die meisten Menschen waren Tagelöhner. Sie kamen morgens früh an einen zentralen Platz am Ort zusammen und dann kamen Bauern und Handwerker oder wer immer eine Arbeitskraft brauchte und engagierte jemanden für diesen Tag.

So machte es der Gutsbesitzer auch: Er kam früh am Morgen und verpflichtete Arbeiter für seinen Weinberg. In der dritten Stunde, also wohl gegen neun Uhr, kam er wieder auf den Markt und engagierte weitere Arbeiter. Das letzte Mal machte er das in der elften Stunde, also gegen 17 Uhr.

Soweit ist das Gleichnis einfach und klar, es birgt keine Besonderheiten und Überraschungen. Der Skandal, das Ärgernis, der Anstoß kommt ja erst am Ende der Geschichte. Jeder Arbeiter bekommt den vereinbarten Lohn: einen Denar. Den ortsüblichen Tageslohn. Nicht mehr und nicht weniger. Die, die morgens um sechs angefangen sind zu arbeiten genauso wie die, die abends um fünf gestartet sind. Die einen haben etwa 12 Stunden gearbeitet, die anderen höchstens eine Stunde. Jeder einen Denar.

Also – ich kann den Ärger der Arbeiter verstehen. Die Frühaufsteher haben immerhin den ganzen Tag geschuftet. Und der Gutsbesitzer antwortet pfiffig: „Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh!“ Ist das denn gerecht?

Über die Reaktionen der Zuhörerinnen und Zuhörer berichtet uns Matthäus nichts. Man könnte meinen, Jesus will sagen: Gerecht ist, wenn jeder das bekommt, was vereinbart wurde. Es wurde ja ein Denar vereinbart und diesen Denar bekommt ja auch jeder. Wer mehr will, muss mehr vereinbaren. Irgend etwas wehrt sich in mir gegen diese Vorstellung von Gerechtigkeit. Sind denn tatsächlich beide Vertragsparteien gleich stark? Kann denn ein Arbeiter einfach zwei Denare fordern – oder wird er dann nicht schlicht auf dem Markt zurückbleiben?

Nun gibt es ja auch noch andere Vorstellungen von Gerechtigkeit. Eine von ihnen sagt, dass jeder das bekommen müsse, was ihm zusteht bzw. was er braucht. Das klingt doch schon viel besser. Doch: wer beurteilt eigentlich, was einem Menschen zusteht? Wer weiß, was jemand braucht? Sind da nicht große Konflikte vorprogrammiert? Wenn wir zum Beispiel auf die Pflegeleistungen schauen oder auf Leistungen für Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Arbeit verdienen können – fühlen sich diese Menschen gerecht behandelt?

Eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit sagt: Gerecht ist, wenn jeder das gleiche bekommt. Das leuchtet spontan ein und ich behaupte, es ist die vorherrschende Vorstellung von Gerechtigkeit. Sie ist tief in unserer Kultur verwurzelt. Schauen sie einmal auf Kinder: Heute Nachmittag schneiden sie beim Lieblingskuchen unterschiedlich große Stücke. Kinder haben dann eine ganz klare Vorstellung davon, was gerecht und was ungerecht ist. So wird häufig auch in der Politik diskutiert: Die bekommen etwas, dann will ich auch etwas haben! Alles andere ist ungerecht! Doch was ist bei dieser Vorstellung von Gerechtigkeit eigentlich mit Leistung? Die spielt ja dann überhaupt keine Rolle und lohnt sich nicht.

Hilft uns das Gleichnis in der Diskussion über Gerechtigkeit weiter? Ich befürchte nicht. Das war wohl eine Sackgasse. Jesus erzählt uns hier ganz ausdrücklich kein Gleichnis zur gesellschaftspolitischen Diskussion über Gerechtigkeit. Er sagt es zu Beginn ausdrücklich: Es ist ein Gleichnis über das Himmelreich, ein Gleichnis über Gott, seinen Vater.

Jesus hatte sich immer wieder an religiöse Außenseiter gewendet. An Arme, Sünder, Unreine und Zweifelnde. Er hat deutlich gemacht: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken … Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.

Das macht der Gutsbesitzer auch. Viermal am Tag, sogar noch um fünf Uhr am späten Nachmittag. Er läuft den Arbeitern fast hinterher. Auch die Faulpelze der elften Stunde bekommen noch einen Job bei ihm. Als Gleichnis über das Himmelreich ist schon das Verhalten des Gutsbesitzers ein Ärgernis, ein Skandal.

Der Lohn, der vereinbarte Denar, der ist am Ende für alle gleich. Ob sie nun ein ganzes Leben lang die Gebote eingehalten haben oder nur wenige Monate, ob sie sich nun immer schon zu Jesus bekannt haben oder sich Jesus erst vor Toresschluss zugewandt haben. Der Lohn ist immer gleich.

Auch Sündern und Verbrechern steht der Weg zu Gott offen, auch sie können sich für Gott entscheiden und erhalten ihren Lohn. Ich muss damit rechnen, auch den größten Verbrecher im Himmelreich wiederzutreffen.

Liebe Schwestern und Brüder – mir macht das Gleichnis Hoffnung. Hoffnung für all jene Menschen, die ich liebe und die mir offen sagen: Mit deinem Gott kann ich nichts anfangen. Ich hoffe, dass es auch für sie einen Weg zu Gott gibt.

Doch warum gehe ich dann zur Kirche? Warum versuche ich, die Geobte zu halten? Warum mache ich in der Kirche mit? Jedenfalls nicht, um mein himmlisches Kontobuch zu füllen. Auch nicht, weil ich auf einen VIP-Platz, sozusagen auf einen Ehrenplatz im Himmel hoffe. Die Vorstellung, dass es eine Art Hierarchie im Himmel gibt, ist mir fremd.

Mir ist die Unterscheidung der Geister wichtig geworden, wie ich sie bei Ignatius von Loyola kennengelernt habe: Wenn meine Entscheidung für Jesus mir nur unangenehm ist, wenn sie mir nur innere Qualen bringt und Mühe bereitet – dann ist meine Entscheidung für Jesus falsch. Dann folge ich einem Götzen, einem Idol, einer Weltanschung und vielleicht den Worten meines eigenen Kanarienvogels, aber nicht Jesus Christus.

Mich bewegt, welche Glaubens- und Lebenszuversicht, wieviel Ruhe und Geborgenheit zum Beispiel aus den Abschiedsbriefen der Lübecker Märtyrer sprechen. Mich bewegt immer wieder ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer. Er hat es im Gefängnis geschrieben, in dem Gefängnis, in dem er auf seine Hinrichtung wartete. Er hat das Gedicht zu Sylvester 1944 an seine Mutter geschickt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“

Wenn ein klein wenig von dieser Zuversicht in meinem Leben wirksam wird – dann bin ich gern Christ und freue mich auf jeden, den ich im Himmelreich wiedersehen werde.

 

[Evangelium: Mt 20,1-16 (Einheitsübersetzung von 1979). Die Predigt habe ich am 23.9.2017 in der Pfarrkirche St. Clemens in Haren-Wesuwe und am 24.9.2017 in der Pfarrkirche Herz-Jesu in Haren-Altahren im Rahmen einer Vorabend- bzw. Sonntagsmesse zum 25. Sonntag im Jahreskreis gehalten. Für die Predigt hatte ich mir Stichworte notiert. Das gesprochene Wort weicht deshalb von dem hier (nachträglich) verfassten Langtext ab. Das Lied von Dietrich Bonhoeffer finden Sie im Gotteslob für die (Erz-)Bistümer Hamburg, Hildesheim und Osnabrück unter der Nummer 858.]

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