Alter weißer Mann

Die Probleme eines alten weißen Mannes. Das ist das geflügelte Wort dieser Tage. Er ist zunehmend aggressiv und fühlt sich überfordert. Seine Reaktion ist Abwehr.

Das Smartphone hat unseren Alltag verändert. Wir kommunizieren quasi in Echtzeit über große Entfernungen. Mit dem Smartphone öffnen wir unsere Haustüren, starten unser Auto und überwachen unsere Vitalwerte. Die Email ist ein Relikt aus vergangenen Tagen. Viel zu viele Worte. Das Internet ist noch keine dreißig Jahre unser Alltagsbegleiter. Heute schauen wir nicht mehr in Bücher, sondern suchen im Netz. Der große Brockhaus ist Geschichte. Jetzt auch noch KI. Da komme ich kaum noch hinterher. Obwohl: Wer gibt sich mit der beschränkten Auswahl des lokalen Einzelhandels zufrieden? Ich will nicht nur die wenigen Schuhe sehen, die der Schuhhändler zufällig auf Lager hat. Ich will Auswahl. Ich will alle Schuhe.

Früher schienen die Verhältnisse klar. Mama, Papa und die Kinder. Es gab einige Exoten, Männer die Männer lieben und Frauen die Frauen lieben. Männer in Frauenkleidern und sehr maskuline Frauen. Das gab es alles und noch viel mehr. Man ahnte es mehr, als dass man es wusste. Früher war es die Frage, wieviele Kinder ein Mann hat. Heute stellt sich die Frage, wieviele Väter ein Kind hat. Der alte weiße Mann wird heute gnadenlos mit der ganzen Buntheit der Wirklichkeit konfrontiert.

Damit nicht genug. Sie melden sich jetzt auch noch zu Wort und Ansprüche an. Die andere Hälfte der Menschheit war immer mitgemeint, wenn von Ärzten und Lehrern die Rede war. Im konkreten Einzelfall tauchte mal eine Ärztin auf. Doch sonst fragte man den Arzt oder Apotheker. Es fällt auf, wie stark unsere Sprache durch den heterosexuellen männlichen Blick geprägt ist. Ja und, wen stört es? Diejenigen, deren Perspektive dabei ignoriert wird? Jetzt habe ich mühsam gelernt, mich schriftlich und mündlich auszudrücken und soll neu lernen?

Die Sprache steckt voller Missverständnisse. Der Negerkuss kommt ganz unschuldig daher. Er ist schließlich lecker und ein Kuss ist eine feine Sache. Doch wie sehen das die Menschen, die mit dem N-Wort benannt werden? Wie sieht es mit den Zigeunern aus, die angeblich keine Steuern zahlen und im Wald ein lustiges Leben führen? Die eine leckere Soße zum Schnitzel erfunden haben? Der alte weiße Mann muss realisieren, dass Namen keineswegs unschuldig sind. Nomen est omen. Namen haben eine Geschichte. Mit ihnen werden Vorstellungen und Erfahrungen verbunden und den Menschen zugeschrieben. Ob ich will, oder nicht. Die Geschichte mit den Namen haben die so Bezeichneten zumeist erlitten, nicht gemacht. Die Bedeutungen müssen sie ertragen und können sie kaum gestalten. Manchmal gelingt eine paradoxe Intervention. Zu beobachten bei den Begriffen „Schwuler“ und „schwul“.

Auch die große Politik ist noch undurchsichtiger geworden. Vor vierzig Jahren „Frieden schaffen ohne Waffen“ und heute Waffenexporte in die Ukraine und nach Israel. Natürlich wollen wir unseren Beitrag zur Klimarettung leisten. Doch es sollte sich nicht so viel verändern und vor allem nicht so viel kosten. Des Deutschen liebstes Kind, das Auto, ist zum Streitobjekt geworden. Die einen hassen es, den anderen kann es nicht groß genug sein. Mit drei Tonnen und 800 PS durch die Großstadt. Selbst so unschuldige Dinge wie die Currywurst an der Pommesbude hat heute weltpolitische Bedeutung. Zur Erzeugung einer tierischen Kalorie muss ein Vielfaches an pflanzlichen Kalorien aufgewendet werden. Dann erzeugen die auch noch Abgase. Kühe als Klima-Killer. Halt – Currywurst ist aus Schweinefleisch und Geflügel-Abfällen. Was erzeugen die eigentlich? Wie wäre es, wenn auf jeder Verpackung mit tierischen Produkten ein Bild aus einem Stall angebracht werden muss?

Schließlich kommt immer mehr in den Blick, dass die Geschichte vom Wohlstand, den wir uns aufgebaut haben, ein Märchen ist. Märchen haben oft einen wahren Kern. Doch die ganze Wahrheit ist: Unser Wohlstand basiert auf Jahrhunderten kolonialer Ausbeutung der Welt. Wir können uns das Smartphone aus China nur deshalb leisten, weil es dort für einen Hungerlohn zusammengebaut wird. Unser Konsum basiert auf einem ungeheuren Wohlstandsgefälle. Die Kolonialgeschichte ist eine Geschichte der Ausbeutung und der brutalen Unterdrückung. Völkermord inklusive. Jetzt fordern die Nachfahren der Sklaven von einst auch noch echte Beteiligung und Genugtuung. Was kommkt da noch alles auf uns zu? Wie würde eine Weltgeschichte aussehen, die die Quilombolas schreiben?

Die Welt verändert sich. Rasend schnell. Vielleicht ist es ein Vorrecht der Jugend, Veränderung anzunehmen und anzutreiben und ein Vorrecht der Alten, am Bewährten festhalten zu wollen. Ein erster Schritt für mich: Ja, ich bin alt. Ich bin ein Kind der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ja, ich bin weiß, d.h. ich gehöre zur priviligierten Schicht der westlichen Welt. Ich bin in Deutschland, einem Teil Westeuropas, aufgewachsen. Ja, ich bin ein Mann. Nicht nur biologisch, sondern auch durch meine Sozialisation. Ich habe gelernt, was es im Deutschland der 60er bis 80er Jahre bedeutete, ein Mann zu sein. Ich bin ein alter weißer Mann.

Meine Mutter sagte immer: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Besteht also noch Hoffnung?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.