Das war wieder eine anstrengende Woche für katholische Christen. Am Donnerstag wurde das Gutachten über den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München-Freising vorgestellt. Nach den Gutachten für die Bistümer Berlin, Aachen, Trier und Köln ist das nun das fünfte Gutachten.
Zum fünften Mal haben wir in einen Abgrund geschaut. Es wiederholt sich alles, es war überall gleich. Niemand interessierte sich wirklich für das Leid, das Menschen zugefügt wurde. Man hätte viel früher bemerken können, welche Folgen dieser Missbrauch für die Betroffenen hat. Doch man interessierte sich nur für die Täter und für den guten Ruf der Institution. Die Verantwortlichen in den Bistums-Leitungen schauten weg, die Fälle wurden weiter gereicht wie eine heiße Kartoffel. Nur nicht genau hinschauen – wer weiß, was da noch alles ans Licht kommt. So war es möglich, dass Täter einfach weiter machen konnten, dass weitere Kinder und Jugendliche schwer verletzt wurden. Die Namen sind in jedem Gutachten neu, doch die Verhältnisse gleichen sich.
Dabei machen wir in Deutschland ja nicht den Anfang mit der Aufklärung von sexuellem Missbrauch durch Priester. Seit Mitte der 80er Jahre wird das Thema weltweit intensiv diskutiert. Vorreiter waren die USA. Entschädigungszahlungen an Betroffene haben inzwischen dazu geführt, dass Bistümer Insolvenz anmelden mussten. Auch die katholische Kirche in Irland oder in Chile hat es bis in unsere Nachrichtensendungen geschafft. Seit 2002 gelten in Deutschlands Bistümern die „Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger“.
Im Januar 2010 kamen die Vorgänge am Berliner Canisius-Kolleg ans Licht. Seitdem gibt es heftige Debatten über das Thema. Im September 2018 wurde eine Studie vorgestellt, die die Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hatte. Sie zählte 3.677 Betroffene und ermittelte für die Zeit von 1946 bis 2014 insgesamt 1.670 Geistliche, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Die Studie benannte Handlungsfelder für strukturellen Reformbedarf. Ein Ergebnis ist der sogenannte „Synodale Weg“, auf dem über Reformen diskutiert wird.
Der Zeitraum, in dem wir uns mit diesem Thema beschäftigen, zählt inzwischen Jahrzehnte. Genau so lange sind die Probleme bekannt. Deshalb ist es mir unerklärlich, wie sich Verantwortliche in den Bistumsleitungen bis heute auf Unkenntnis und mangelnde Erfahrung berufen können.
Einen Sonderfall stellt der Umgang mit Josef Kardinal Ratzinger als Erzbischof von München-Freising dar. Er betont, dass er sich sehr genau an die Einzelheiten erinnere. Wenn er sich an etwas nicht erinnere, dann habe es das auch nicht gegeben. Für die Fälle, die in seine Amtszeit fallen, gelte: Er habe sich gemäß den damaligen Regeln korrekt verhalten oder er habe von den Vorfällen nichts gewusst.
In einem Fall geht es um eine Sitzung des Ordnariatsrates am 15. Januar 1980. Da war er laut Protokoll nicht dabei. Das Protokoll legt aber auch den Schluss nahe, dass er dabei gewesen sein muss, weil Tagesordnungspunkte notiert werden, zu denen nur er diese Auskünfte geben konnte.
Ich bin ehrlich: Ich erinnere mich nicht an jede Sitzung von vor mehr als vierzig Jahren. Schon gar nicht erinnere ich mich an alle Details, die dort besprochen wurden. Deutsche Politiker weisen erhebliche Erinnerungslücken selbst für Unterredungen auf, die nur wenige Jahre zurückliegen und werden dann Bundeskanzler.
Hat Benedikt gelogen? Ich nenne das mal Erinnerungstäuschungen. Noch peinlicher sind jedoch die Ausführungen des ehemaligen Papstes zu verschiedenen Formen sexuellen Missbrauchs. Sie sind nur schwer zu ertragen und an Peinlichkeit kaum zu überbieten.
So bleibt die alte Leier. Die Verantwortlichen haben nichts gewusst oder sie wussten nicht, was zu tun war oder sie waren im übrigen nicht zuständig.
Die heutigen und die ehemaligen Verantwortlichen im Erzbistum dürften doch von dem Gutachten nicht überrascht sein. Sie wissen ja, was sie getan und was sie nicht getan haben. Doch sie übernehmen keine Verantwortung. Sie bleiben auf ihren Posten und genießen ihre Pensionen. Wenn ich eine Führungsaufgabe oder eine Leitungsaufgabe übernehme, dann übernehme ich Verantwortung. Wenn ich Fehler mache, dann hat das Folgen für mich. Deshalb bekomme ich mehr Gehalt als andere, die diese Verantwortung nicht tragen. Als Pfarrer erhalte ich ein höheres Gehalt als ein Pastor zur Mitarbeit. Ein Bischof erhält ein noch viel höheres Gehalt als ein Pfarrer. Das Geld nehmen alle gern. Doch die Verantwortung, die sollen doch bitte andere tragen. So ist es in Wirtschaftsunternehmen die Autos bauen und so ist es in unserer Kirche. Fehler und Unkenntnis bis hin zur Unfähigkeit haben keine Konsequenzen, selbst wenn in ihrer Folge Kinder und Jugendliche Schaden nehmen.
Wenn ich heute wieder einmal über dieses Thema predige, dann wird mir Angst und Bange um unsere Kirche. Die Zahl der Kirchenaustritte schnellt in die Höhe, auch hier bei uns. Als Katholiken werden wir angefragt: Wie kannst du noch in diesem Verein sein? Mir fällt es immer schwerer, mich öffentlich als Priester zu zeigen.
Dabei ist es wichtig, dass wir unsere Schock-Starre überwinden. Dass wir nicht mehr einfach nur zusehen, was das passiert und uns gruseln. Das Volk Gottes ist gefragt, seine Verantwortung wahrzunehmen.
Es geht um Menschen, die in den Kirchen und Pfarrheimen hier vor Ort zusammenkommen. Es geht um den Glauben dieser Menschen, es geht um ihren Glauben. Den Glauben an Jesus Christus, der ihnen Halt und Trost ist, der ihrem Leben einen Sinn gibt. Es geht um die Kirche, es geht um ihre Kirche. Nicht um die Kirche der Bischöfe und Priester.
Übernehmen sie Verantwortung. Nicht für die ganze Kirche oder die ganze Welt. Übernehmen sie Verantwortung für ihre Kirche vor Ort. Sorgen sie dafür, dass Kinder und Jugendliche, Menschen mit Sorgen und Problemen bei uns gut aufgehoben und sicher sind. Achten sie auf die Kinder und Jugendlichen, die hier mitmachen. Als Messdiener*innen oder in der Erstkommunion- oder Firmvorbereitung. Schauen sie dem Personal auf die Finger. Schauen sie mir auf die Finger.
Wir machen alle Fehler und Einstellungen und Einsichten wandeln sich. Doch wenn jemand sich als unfähig erweist, Sorge zu tragen für die Kleinsten und Schwächsten – dann hat er sich für ein Leitungsamt in unserer Kirche disqualifiziert.
Ich befürchte, dass die Herren das nicht von selbst begreifen werden. Das wird ihnen jemand beibringen müssen. Dabei ist der Schlusssatz der heutigen Lesung vielleicht eine Ermutigung: Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.
Die Predigt habe ich am 22. und 23. Januar 2022 in den Pfarrkirchen Heilige Familie in Weyhe-Kirchweyhe und in Maria Königin in Bruchhausen-Vilsen gehalten. Am 20. Januar 2022 war das Gutachten über den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München-Freising veröffentlich worden. Mich fragen Menschen, warum ich denn nicht auch etwas Positives über die katholische Kirche sage. Warum ich nicht auf die guten Dinge hinweise, die in der katholischen Kirchen ja auch geschehen. Ganz einfach: Wenn ich als Priester und Pfarrer und damit als offizieller Vertreter dieser Kirche darauf hinweise, dann ist das eine Relativierung und Verharmlosung der Dinge, die hier kritisiert werden. Wir werden es aushalten müssen, dass nun die hässlichen Seiten der Institution gezeigt werden.