Zeugnis: Auferweckung in Nain

Bibeltext: Lk 7,11-17

In jener Zeit kam Jesus in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen und er sagte: Ich befehle Dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen. Und die Kunde davon verbreitet esich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum.

Hinweis: Den folgenden Text möchte ich nur ungern als Predigt bezeichnen. Es ist sozusagen ein persönliches Glaubenszeugnis. Er stammt aus einer Zeit des persönlichen Auf- und Umbruchs und ist so ein Zeugnis eines Lebens auf dem Weg.

Inzwischen sind einige Jahre ins Land gegangen. Vieles würde ich heute nicht mehr so sagen – trotzdem habe ich den Text so belassen, wie ich ihn damals vorgetragen habe. Der geneigte Leser/die geneigte Leserin wird sich seine/ihre eigenen Gedanken machen.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

das heutige Evangelium führt uns vor die Tore von Nain, einer Stadt vor den Bergen von Sebulon, südwestlich des Sees von Genezareth. Sie gehört in den Zusammenhang der Berichte über das Wirken Jesu in Galiläa – bevor er sich auf den Weg nach Jerusalem macht. Die Kunde von den Worten und den Taten dieses Jesus aus Nazaret hatte sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum verbreitet und gelangte auch zu Johannes dem Täufer. Nach der Feldrede, die Matthäus als Bergpredigt überliefert, leiten Lukas mit zwei Wundererzählungen zur Frage des Täufers über: Bist Du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?

Die heilenden Taten Jesu werden gewöhnlich als „Wunder Jesu“ bezeichnet, obwohl die Evangelien nirgends die Bezeichnung „Wunder“ für Jesu heilende Taten verwenden; sie sprechen vielmehr durchweg von „Machttaten“ Jesu bzw. von „Zeichen“ – von Taten, in denen Gottes Macht und Kraft heilend am Werk ist.

In den Evangelien nehmen solche „Wundererzählungen“ einen breiten Raum ein. Geht man traditionskritisch hinter diese Geschichten zurück, stößt man auf einen historisch gesicherten Grundstock von Heilungstaten Jesu. Auch kritische Historiker bezweifeln nicht, dass Jesus zumindest Kranke geheilt und Dämonen – viele Krankheiten verstand man als Besessenheit – ausgetrieben hat. Jesus hat offenbar Heilungen vollbracht, die seine Zeitgenossen in Staunen versetzten.

Von einer solchen Machttat erzählt das Evangelium heute. Als Jesus, gefolgt von einer großen Menschenmenge, das Stadttor von Nain erreicht, begegnet ihm ein Leichenzug. Nach der Sitte der Zeit wird ein Toter noch am Sterbetag zu Grabe getragen. Die Szene wird nicht weiter ausgemalt und wir erfahren von den Menschen, die sie erleben, wenig. Auch der Tote bleibt namenlos – wir erfahren lediglich, dass er der einzige Sohn seiner Mutter ist und in einem Nebensatz, dass diese Mutter eine Witwe ist. „Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht!“ An dieser Stelle steht für mich der Kernsatz dieses Evangeliums. Es sind viele andere Situationen denkbar und sie werden an anderer Stelle auch berichtet: Menschen wenden sich in ihrer Not an Jesus und bitten ihn um Heilung für sich selbst oder für andere. Manche sind überzeugt davon, dass allein die Nähe ausreicht, ihnen Heilung zu verschaffen. Von einer Bitte um Heilung wird hier nicht berichtet. Der Anblick des Elends erweckt bei Jesus Mitleid. Er fragt nicht nach der Vorgeschichte oder nach dem Lebenswandel des toten Sohnes oder der Mutter. Jesus sieht, dass der Frau etwas fehlt und er leidet mir ihr an diesem Mangel. Lukas verstärkt dies noch dadurch, dass er ausdrücklich darauf hinweist, wer hier Mitleid hat: kein geringerer als der Herr selbst. Angesichts des vielfältigen Leides auf der Welt ist es eine herausfordernde und tröstende Aussicht zugleich: Gott leidet mit den Menschen, wo immer ihnen Unrecht zugefügt wird und wo immer ihnen fehlt, was sie zum Leben benötigen.

Doch es bleibt nicht bei diesem Mitleid – Jesus handelt. Bei Jesus fallen Wort und Tat nicht auseinander, sie entsprechen einander. Sie gehen weit über die Innerlichkeit hinaus und betreffen die Leiblichkeit und Sozialität des Menschen. Jesus tritt zur Bahre und sagt: „Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf!“ Das Wunder geschieht und Jesus gibt der Mutter ihren Sohn zurück.

Immer wieder werden die Jünger Jesu zur Nachfolge aufgerufen. Vielleicht bedeutet Nachfolge den Aufruf zur Empfindsamkeit, ja zur Empfindlichkeit: zum Leiden am Unrecht, an der Missachtung, der Gleichgültigkeit, den Schmerzen und Ängsten, die anderen und mir widerfahren.

Falsch verstandenes Mitleid kann allerdings dazu führen, dass ich den anderen entwürdige: Er erhält, was ich ihm Kraft meiner Großzügigkeit zugestehe. Viele Menschen empfinden Zuwendung und Aufmerksamkeit so und lehnen sie, soweit sie können, ab. Wenn im heutigen Evangelium der Herr Mitleid hat, wird deutlich, was Gott für uns Menschen will. Mein Mitleid ist dann nicht das Ergebnis meiner Großzügigkeit, sondern ist der Versuch, dem Willen Gottes zu entsprechen. Früher hatte man dafür ein Wort, das etwas aus der Mode gekommen ist: gehorsam sein. Mitleid haben bedeutet nicht, andere und mich den zufälligen Launen meiner Emotionen auszusetzen, sondern gehorsam gegenüber dem Willen Gottes zu sein. Wenn wir Menschen im Haus am Bürgerpark besuchen dann nicht, weil wir liebe Menschen sein wollen – sondern weil wir glauben, dass alle Menschen ein Recht auf Freundschaft haben und dass wir verpflichtet sind, diese Freundschaft zu geben wo immer wir das können.

Jesus macht der Frau ein Geschenk: er gibt ihr ihren Sohn zurück. Geschenke annehmen will gelernt sein. Die Vorstellung des starken Menschen, der aus eigener Kraft alles erreicht, was er erreichen will, kann unfähig machen, Geschenke anzunehmen. Doch mit dieser Vorstellung nehme ich mir selbst das Fundament für ein gelungenes Leben. Denn das ist stets auch Geschenk.

Johannes der Täufer hatte fragen lassen: Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten? Jesus antwortete den Boten: „Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ Wir sind reich beschenkt – geben wir davon weiter.

Am 13. September 2005 im Rahmen des Abendgebetes der Gemeinschaft von Sant’Egidio in der Pfarrkirche St. Barbara, Osnabrück.

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