Achtet auf eure Sprache!

Predigt im ökumenischen Gottesdienst zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 26. Januar 2026 im Evangelischen Gemeindehaus in Syke.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ So schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1921. Er meinte damals philosophische Probleme. Wenn ich ihn heute zitiere, dann meine ich ein monströses Geschehen, das vor 80 Jahren offenbar wurde. Am 27. Januar 1945 befreite die sowjetische Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie trafen auf etwa 7.000 Überlebende, von denen viele trotz medizinischer Hilfe in den nächsten Tagen verstarben. Man schätzt, dass allein in Auschwitz etwa 1,5 Millionen Menschen getötet wurden.

Jetzt wurde öffentlich sichtbar, was Geheimdienste schon lange wussten, worüber Zeitungen seit 1940 schrieben und worüber sich Menschen mehr oder weniger geheim unterhielten. Spätestens seit dem Sommer 1941 setzten die deutsche Wehrmacht und alle öffentlichen Einrichtungen des Deutschen Reiches in Deutschland und in den besetzten Gebieten den Beschluss um, alle europäischen Juden systematisch und industriell organisiert zu töten. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden 5,6 bis 6,3 Millionen Juden ermordet. Das waren mehr als zwei Drittel der damals in Europa lebenden Juden.

Das war ein so monströses, in der Geschichte der Menschheit bis heute noch nie diagewesenes Verbrechen, dass ich nach Worten suchen muss. Welche Worte sind angemessen, ein solches Verbrechen anzusprechen?

Der Holocaust, der Völkermord an den europäischen Juden war eingebettet in ein System der Gewalt gegen alle Gegner des Nationalsozialismus, eingebettet in eine Terrorherrschaft in den besetzten Gebieten und in eine barbarische und rücksichtslose Kriegsführung. Weltweit starben im Zweiten Weltkrieg mehr als 65 Millionen Menschen.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Doch Herz und Verstand werden bedrängt von der Einsicht, über diese Dinge reden zu müssen. Junge Menschen wissen immer weniger über Holocaust, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg.

Doch das Erinnern an das Unsagbare ist wichtig. Nicht, weil sich Geschichte wiederholt. Es wird nicht eine einfache Wiederholung dessen geben, was zwischen 1933 und 1945 geschah. Doch es gibt Mechanismen und es gibt Strukturen, die damals wirkten und die heute wirken.

Der Aufstieg der Nationalsozialisten, ihre Machtübernahme 1933 und der aggressive Antisemitismus wurden vorbereitet von den Medien des Hugenberg-Konzerns. Er kontrollierte in der Weimarer Republik die Hälfte der Presse im Deutschen Reich. Fake-News und Alternative Fakten beherrschten die Medien des Konzerns. Die Bevölkerung in Deutschland wurde bombardiert mit nationalistischer, antidemokratischer und antisemititscher Propaganda. Die Wirkung von medialem Trommelfeuer kann an der Weimarer Republik studiert werden. Ganz langsam verschob sich das, was denkbar und sagbar wurde. Die Medien des Hugenberg-Konzerns haben dazu beigetragen.

Die Nationalsozialisten schwammen spätestens ab 1933 auf einer Welle des Erfolges und der Zustimmung. Wirtschaftliche Erholung, Olympische Spiele, Remilitarisierung des Rheinlandes, Anschluss Österreichs, Münchner Abkommen, Zerschlagung der Tschechoslowakei. In den USA gründete sich der Amerikadeutsche Bund, der noch 1939 im Madison Square Garden in New York eine Massenkundgebung organisieren konnte. Der zurückgetretene ehemalige König von England zeigte mit seiner Frau offene Sympathie für das Regime in Berlin. Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erhielt die NSDAP 44 % der Stimmen, bei den Volksabstimmungen danach erzielten die Nationalsozialisten eine Zustimmung von bis zu 99,7 %. Auch wenn es sich nicht um demokratische, freie und geheime Wahlen gehandelt hat. Auf die Menschen machte das Eindruck. Wer gegen die Nationalsozialisten war, befand sich in der Minderheit. Er war umgeben von Anhängern der neuen Ideologie.

Im Windschatten des Erfolges und der Zustimmung konnten dann weitere Maßnahmen umgesetzt werden: die Nürnberger Rassengesetze, die Novemberprogrome 1938, Aufrüstung und Militarisierung. Bis zum Überfall auf Polen dauerte es sechs Jahre, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges weitere fünf Jahre. Das Kriegsende haben die meisten Deutschen nicht als Befreiung, sondern als schreckliche Niederlage erlebt. Das Volk der Dichter und Denker hatte die nationalsozialistische Propaganda verinnerlicht.

Das geschah nicht über Nacht. Menschen wurden an Wörter und Sachverhalte langsam gewöhnt. Das geschieht auch heute. Wir sprechen heute von „irregulärer Migration“ oder von „illegaler Migration“. Irregulär oder illegal – das klingt irgendwie gefährlich. Jemand, der irregulär oder illegal nach Deutschland kommt, der hat schon mal Dreck am Stecken. Aus dem kann kein anständiger Bürger werden. Überhaupt: Die Menschen kommen nach Deutschland, um sich in unserem Sozialsystem auszuruhen.

Das Dumme ist: Diese Menschen gibt es tatsächlich. Doch die überwiegende Anzahl der Menschen, die bei uns einen Asylantrag stellen, erhalten bei uns aus guten Gründen Schutz. Weil sie verfolgt werden oder weil in ihrer Heimat Krieg oder Bürgerkrieg herrschen. Bei einer Minderheit wird der Asylantrag abgelehnt. Diese Menschen müssen Deutschland verlassen.

Ein anderes aktuelles Beispiel ist die Diskussion über das Bürgergeld. Empfänger von Bürgergeld sind im Sprachgebrauch einiger Medien und von Teilen der Politik identisch mit Schmarotzern des Sozialsystems. Sie wollen nicht arbeiten und ruhen sich auf staatlichen Leistungen aus. Tatsächlich gibt es gut 16.000 Empfänger von Bürgergeld, die sanktioniert werden, weil sie sich verweigern. Das sind 16.000 von gut 5,5 Millionen.

Der Mechanismus ist hier wie dort derselbe. Eine Minderheit verhält sich problematisch und ihr Verhalten wird auf die ganze Gruppe übertragen. Asylbewerber sind illegal und gewalttätig, Empfänger von Bürgergeld sind faul.

Auch die Folgerungen sind immer dieselben. Sind erst alle Migranten emigriert, dann leben wir hier in Sicherheit und Wohlstand. Wird das Bürgergeld gekürzt und die Sanktionen verschärft, dann ist der Bundeshaushalt saniert.

Bitte verstehen sie mich nicht falsch: Es gibt Probleme mit der Migration. Es schreit zum Himmel, dass so viele Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen. Wir müssen uns überlegen, wie wir angemessen mit Menschen umgehen, die bei uns Schutz suchen. Wir müssen überlegen, wie wir die Last der Migration in Europa verteilen. Es ist ein Skandal, dass über fünf Millionen Menschen staatliche Leistungen beanspruchen müssen, damit sie überleben können. Es ist ein Skandal, dass so viele von ihnen Kinder sind.

Aber genau das ist Populismus. Ein tatsächlich bestehendes Problem wird auf einen einzigen Aspekt verkürzt und Schuld ist eine bestimmte Gruppe von Menschen. Diese Menschen werden dann zum Sündenbock. Im Schutz allgemeiner Zustimmung übernehmen dann Menschen die Endlösung des jeweiligen Problems.

Wie gesagt: Es gibt keine plumpen Wiederholungen in der Geschichte. Doch bestimmte Mechanismen und Strukturen wirken auch heute. Mechanismen und Strukturen, die die Herrschaft der Nationalsozialisten und den Holocaust ermöglicht haben. Sich erinnern heißt: diese Mechanismen und Strukturen benennen und sich denen entgegen stellen, die sie für eine inhumane Politik nutzen. Populismus verspricht Wählerstimmen. Doch er löst kein Problem und ist zutiefst unmenschlich.

Hinzu kommt: Vor uns liegen ohne Frage komplexe Aufgaben, die unsere ganze Kraft erfordern: Migration, Klimawandel, ökologische Transformation. Meine Erfahrung zeigt mir: Wenn wir Probleme und Aufgaben beim Namen nennen, wenn wir uns um die entstehenden Sachfragen kümmern, wenn wir Argumente austauschen und um die beste Lösung ringen – dann können wir diese Aufgaben und Probleme gut lösen.

Dazu müssen wir aber zu einer echten Debattenkultur finden. An der Etablierung einer echten Debattenkultur können wir alle aktiv mitwirken. Auch wenn ich meinen Vorschlag als Christ mache, als ein Mensch, der an einen Gott glaubt und der in Jesus aus Nazareth den Sohn Gottes erkennt: Der erste Schritt ist der möglichst unverstellte Blick auf die Welt, wie sie ist. Wir müssen lernen, ohne Vorurteile auf die Welt zu schauen. Auf die Welt zu schauen, wie sie ist.

Christen sind dazu aufgerufen und sie werden dazu befähigt. Ihr Gott kennt die Menschen und er kennt ihre Stärken und ihre Fehler. Sie wissen sich vom Schöpfer der Welt geliebt. Deshalb müssen sie sich nichts vormachen. Sie brauchen keine Ideologien, die sich die Welt zurechtbiegen.

Der unverstellte Blick auf die Welt, wie ist, er ist anstrengend und erfordert viel Mühe. Manchmal führt er auch zu Enttäuschungen. Doch der unverstellte Blick auf die Welt, wie sie ist, er ist die Voraussetzung dafür, dass wir für Aufgaben und Probleme angemessene Lösungen finden.

Wir Christen sollten uns vielleicht auch an so etwas altmodisches wie die Zehn Gebote erinnern. Die sind nämlich Garn nicht altmodisch, sondern sehr aktuell. Das achte Gebot lautet: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben gegen deinen Nächsten.“ Das war wohl ursprünglich auf Gerichtsprozesse bezogen. Du sollst in einem Gerichtsprozess keine falsche Aussage machen. Daraus wurde dann allgemein: Du sollst nicht lügen.

Lügen heißt: Ich sage etwas, von dem ich weiß, dass es nicht stimmt. Irrtum ist keine Lüge. Doch absichtlich etwas Falsches zu sagen oder zu schreiben ist eine Lüge. Auch das Zurechtstutzen der Wahrheit durch Weglassung ist eine Lüge. Wahrhaftig zu sein, intellektuell redlich zu sein, das ist ein eigener hoher Wert.

Wir sollten bei der Beurteilung von Politikern auch darauf achten, wer durch wiederholte und permanente Lüge auffällt. Bei den Faktenchecks der Nachrichtenplattform X hat es ein deutscher Spitzen-Politiker unter die Top-200 der häufigsten Lügner gebracht.

Die allermeisten Probleme haben mehrere Ursachen, die sich auch noch gegenseitig beeinflussen. Deshalb gibt es fast immer mehrere Lösungsansätze, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Wer vorgibt, alle Probleme hätten nur eine Ursache und sie seien eindeutig und einfach zu lösen, der ist ein Populist und Volksverdummer. Wer in der politischen Auseinandersetzung wider besseres Wissen argumentiert, weil er glaubt, damit Wählerstimmen zu erhalten, der lügt und verstößt gegen das 8. Gebot.

Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus: „25 Legt deshalb die Lüge ab und redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden. 26 Wenn ihr zürnt, sündigt nicht! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen. 27 Gebt dem Teufel keinen Raum! 28 […] 29 Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, auferbaut und denen, die es hören, Nutzen bringt! 30 Betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, den ihr als Siegel empfangen habt für den Tag der Erlösung! 31 Jede Art von Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung mit allem Bösen verbannt aus eurer Mitte! 32 Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat“ (Eph 4,25-32).

Paulus gibt uns ein sehr brauchbares Kriterium an die Hand. Wenn ich etwas laut sagen oder wenn ich etwas im Internet verbreite, dann „soll über meine Lippen kein böses Wort kommen, sondern nur ein gutes, das den, es braucht, aufgebaut und denen, die es hören, Nutzen bringt“ (Eph 4,29). Wenn ich jemandem etwas sage: Baut ihn das auf? Oder macht ihn das nieder? Wenn jemand hört, was ich sage: Bringt ihm das einen Nutzen?

Das gilt für die öffentliche Diskussion im Internet oder in sonstigen Medien. Das gilt auch für die private, ganz persönliche Kommunikation. Wenn ich etwas sage oder verbreite, dann soll ich mir die Frage beantworten: Baut das auf und bringt das einen Nutzen? Wenn es weder aufbaut noch einen Nutzen bringt, dann sollte ich besser schweigen.

Wir sollten auf unsere Sprache achten. Angela Merkel hat dazu am 10.9.2020 auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung sehr passendes gesagt: „Achtet auf die Sprache. Denn die Sprache ist sozusagen die Vorform des Handelns. Wenn die Sprache auf die schiefe Bahn gekommen ist, kommt auch sehr schnell das Handeln auf die schiefe Bahn. Dann ist auch Gewalt nicht mehr fern.“

Die Predigt habe ich mit einigen Stichpunkten gehalten. Die Formulierungen dieser Lese-Fassung weichen sicher in einigen Details vom gesprochenen Wort ab. Beachten Sie: Texte, die für den mündlichen Vortrag erstellt werden, haben eine andere Diktion als Texte, die für das (stille) Lesen gedacht werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.