Die Priesterkirche ist tot

Die Urlaubszeit ist für die Nachrichten meistens eine „Saure-Gurken-Zeit“. Auch in der Kirche. Doch in diesem Jahr ist es anders. Am Montag veröffentlichte die Kleruskongregation des Vatikan eine Instruktion mit dem Titel „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“. Die Instruktion hat auch Insider überrascht und sie hat für Diskussionen gesorgt. Sie haben davon sicherlich gehört oder gelesen. Unser Bischof hat dazu am Mittwoch Stellung genommen. Seine Stellungnahme möchte ich ihnen vorlesen. [Die Stellungnahme wurde ohne Kürzung vorgelesen.]

Die Instruktion aus Rom hat mich als Priester und Pfarrer sehr irritiert und betroffen gemacht. Deshalb bin ich unserem Bischof sehr dankbar für seine klärenden Worte. Denn ich finde mich mit meinem Dienst als Priester und Pfarrer in der Instruktion nicht wieder.

Seit mehr als zwei Jahren bin ich Pfarrer der fünf Pfarrgemeinden in unserer Pfarreiengemeinschaft Emmaus. Seit mehr als zwei Jahren habe ich diese Pfarreien zu leiten. Doch was bedeutet Leitung eigentlich? Leitung bedeutet ja nicht, dass ich allein vorangehe, alles vorgebe und kontrolliere und alle mir folgen. Ein Leiter und viele Gehorsame. Ich bin als Pfarrer vielmehr darauf angewiesen, dass viele Menschen in unseren Gemeinden eine Leitungsfunktion übernehmen und dass viele Menschen Verantwortung übernehmen.

Da sind die Gremien unserer Pfarreien. Der Kirchenvorstand ist der rechtliche Vertreter. Er verwaltet die Finanzen. Er sorgt für die Grundstücke und Gebäude und für das Inventar. Er schafft die äußeren Voraussetzungen dafür, dass in unseren Pfarreien überhaupt etwas geschehen kann. Als Pfarrer gehöre ich automatisch zum Kirchenvorstand und ich bin der geborene Vorsitzende. Als Vorsitzender lade ich zu Sitzungen ein, schlage eine Tagesordnung vor und leite die Sitzungen. Als Vorsitzender bin ich gleichzeitig so etwas wie ein Geschäftsführer. Das bedeutet, dass ich die gewöhnlichen Geschäfte des Kirchenvorstandes zwischen den Sitzungen erledigen kann. Doch am Ende habe ich eine Stimme im Kirchenvorstand und die anderen Mitglieder können mich überstimmen.

Der Pfarrgemeinderat ist verantwortlich für die Pastoral. Der Pfarrgemeinderat ist verantwortlich für das, was in der Gemeinde praktisch passiert. Denn Gebäude und Inventar allein sind ja bedeutungslos. Der Pfarrgemeinderat steckt praktisch den Rahmen ab, innerhalb dessen das Pastoralteam seinen Dienst tut. Im Pfarrgemeinderat habe ich als Pfarrer automatisch Sitz und Stimme. Anders als im Kirchenvorstand habe ich als Pfarrer im Pfarrgemeinderat ein Veto-Recht. Mein Veto hat aufschiebende Funktion. In der nächsten Sitzung wird die Frage noch einmal behandelt und wenn das Ergebnis sich nicht ändert, kann der Vermittlungsausschuss im Bistum angerufen werden.

Dann ist da das Pastoralteam. Sie kennen uns alle: Herr Dr. Gautier, Frau Sievers, Frau Suffner, Pater Jose und ich. Im Pastoralteam bin ich sozusagen der Chef und habe so etwas wie eine Richtlinien-Kompetenz. Gegen meinen Willen geht nichts. In solchen Arbeitsgruppen ist es in den vergangenen Jahren zu einer Veränderung gekommen, die wir in der betrieblichen Organisation als „Wertewandel“ beschrieben haben: Die Mitglieder des Pastoralteams sind allesamt bestens ausgebildet, alle haben eine Hochschul-Ausbildung. Sie sind hoch motiviert, kreativ und wollen etwas bewegen.

Das alte Meister-Prinzip funktioniert dann nicht mehr. Der Meister verteilt am Morgen die Aufgaben, erklärt jedem was er wie zu tun hat und könnte im Zweifel alle Aufgaben auch selbst erledigen. Die Mitglieder des Pastoralteams sehen die Aufgaben, bevor ich davon überhaupt etwas erfahre und sie haben häufig eine viel höhere Kompetenz, sie zu erledigen. Weil sie eine Spezialausbildung zum Beispiel in Religions-Pädagogik haben, die ich nicht habe. Sie sind mir an Berufserfahrung und an Fachkenntnissen in ihren Bereichen überlegen. Trotzdem bin ich ihr Vorgesetzter und habe hoffentlich auch noch meine eigenen Fähigkeiten.

Deshalb wird für solche Teams und Gruppen seit Jahrzehnten ein Führungs- und Leitungsstil diskutiert, der „kooperativ-partizipativer Führungs- bzw. Leitungsstil“ genannt wird. Es geht um echte Beteiligung und Zusammenarbeit und um das Bemühen, Übereinstimmung oder Konsens herzustellen.

Es geht vor allem darum, die Ebenen Aufgabe – Kompetenz – Verantwortung in Deckung zu bringen. Wenn jemand eine Aufgabe bekommt, dann muss er auch alle Kompetenzen erhalten, die Aufgabe sach- und fachgerecht zu erledigen. Wenn jemand eine Aufgabe mit den dazu gehörenden Kompetenzen erhalten hat, dann trägt er auch die Verantwortung für diese Aufgabe. Wenn sie gelingt genauso wenn sie misslingt. Die Übereinstimmung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung gelingt niemals vollständig. Es gibt immer wieder Grenzsituationen, in denen ein Wechsel von Kompetenz und Verantwortung notwendig wird. Wenn zum Beispiel in einer Bank der Kundenberater über einen Kredit nicht allein entscheidet.

Doch Ziel soll es sein, diese Felder in möglichst große Übereinstimmung zu bringen. Denn nur so kann ich Menschen ermutigen, Aufgaben selbständig zu übernehmen, nach kreativen Lösungen zu suchen und vorausschauend und zielgerichtet zu wirken. Das gilt am Ende für alle Dienste und Aufgaben in unseren Gemeinden: vom Küster über die liturgischen Dienste, den Reinigungskräften, den Pfarrsekretärinnen und den Verantwortlichen in den Gruppen: ob Caritas-Besuchsdienst, Seniorentreffen, Kolpingfamilie, Frauengemeinschaft oder Zeltlager. Mein Aufgabe als Pfarrer ist zuerst ein Dienst an der Einheit: die vielfältigen und unterschiedlichen Menschen zusammenzuführen und ihr Zusammenwirken zu moderieren.

Ein frisch geweihter Priester wählt für die erste Heilige Messe, der er als Priester vorsteht, einen kurzen Bibeltext als Primizspruch, sozusagen als Motto für seinen zukünftigen Dienst. Das habe ich auch gemacht und mich für einen Satz aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther entschieden. Mein Primizspruch lautet: Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein, sondern wir sind Helfer zu eurer Freude (2 Kor 1, 24).

Deshalb taugt das Bild des Hirten für meinen priesterlichen Dienst nur sehr wenig. Denn der Hirte kennt den Weg und führt seine Herde auf diesem Weg. Das verlorene Schaf sammelt er ein und bringt es zur Herde zurück.

Doch ich kenne den Weg aber nicht und ich kann andere Menschen deshalb auch nicht auf diesem Weg führen. Natürlich habe ich Ideen, Vorstellungen, Argumente, Hoffnungen und meinen Glauben und ich habe gelernt, sie auszudrücken. Doch am Ende kann ich mich nur mit ihnen gemeinsam auf den Weg machen und mit ihnen gemeinsam tastend und suchend auf unserem Weg gehen. In dieses gemeinsame Tasten und Suchen bringe ich mich ein: mit meinem Wissen durch das Studium, mit meiner Lebenserfahrung und mit meiner Beziehung zu unserem Herrn Jesus Christus.

Ja, ich möchte Menschen nachgehen. Menschen die sich abwenden, die sich nicht trauen zu fragen oder zu sprechen. Ich möchte sie ermutigen sich wieder zuzuwenden, Fragen zu stellen und zu sagen, was sie denken und was sie bewegt.

Doch dabei muss ich immer respektieren, dass jeder Mensch ganz anders ist als ich. Dass jeder Mensch dazu auch jedes Recht hat. Wenn ich zum Beispiel Menschen in einer Trauersituation nach dem Tod eines lieben Angehörigen besuche, dann muss ich beachten, dass jede Trauer anders ist. Jeder und jede Verstorbene hat ein ganz eigenes Leben gelebt. Ein Leben, das unvergleichbar ist mit jedem anderen Leben. Jeder Angehörige trauert anders und jeder drückt seine Gefühle und Stimmungen anders aus. Jeder hat andere Gedanken.

Was für die Trauer gilt, das gilt auch für alle anderen Situationen. Geburtstage, Hochzeiten, Taufen und Beichtgespräche. Das Zauberwort ist „Respekt“, Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen. Menschen sind für mich unverfügbar, ich muss offen sein für ihre Individualität. Ich muss immer daran denken, dass Ratschläge allzuoft auch Schläge sind.

Deshalb ist das Bild des Priesters, der einsam und allein eine Pfarrei leitet, ein abwegiges Bild. Leitung einer Pfarrei geht nur gemeinsam und nur dadurch, dass jede und jeder seine persönliche Leitungsverantwortung übernimmt. Es wäre ein Fortschritt, wenn die Kleruskongregation nicht nur klug und mit Weitsicht Veränderungen in der Gesellschaft beschreibt, sondern daraus auch Konsequenzen für die Kirche zieht.

Ich bin ein Anhänger des Weihepriestertums und der sakramentalen Verfassung der Kirche. Doch die Priesterkirche des 19. Jahrhunderts stirbt überall auf der Welt. In unserer Gegend ist sie schon tot. Darüber bin ich nicht wirklich traurig.

Anmerkung: Diese Predigt habe ich am 26. Juli 2020 in der Pfarrkirche St. Paulus in Syke gehalten. Für diese Textfassung habe ich sie sprachlich leicht angepasst. Bitte bedenken Sie die Besonderheiten der Gattung Predigt: Sie ist keine Vorlesung und ein Thema kann nicht erschöpfend und differenziert behandelt werden. So fehlt hier völlig der Aspekt, dass ich als Priester ein Mitarbeiter meines Bischofs bin und er mich als Pfarrer sozusagen als seinen Stellvertreter in die Pfarrei gesandt hat. Daraus ergeben sich Aufgaben und Verpflichtungen. So zum Beispiel die Aufgabe, den Gläubigen die Lehre der Kirche zu vermitteln und die Pflicht, das allgemeine Kirchenrecht und das Recht des Bistums zu beachten. Hier beschränke ich mich auf die Leitungsaufgabe und einen wesentlichen Aspekt meines Menschenbildes (beides gehört hier zusammen). Außerdem setze ich bei meinen ZuhörerInnen (und LeserInnen) auf eine „Hermeneutik des guten Willens“ und die Bereitschaft, selbst zu denken. Wenn die Verweise auf die Dokumente nicht mehr funktionieren, geben Sie mir bitte einen Hinweis.

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