Vor drei Wochen, mitten in der Saure-Gurken-Zeit des Sommers, wurde die kirchliche Statistik für 2017 vorgestellt. Wenn es um Statistik geht, dann bin ich ja in meinem Element.
In unserer Pfarreiengemeinschaft von Brinkum bis Hoya leben 8.202 Gläubige [Brinkum 1.972, Kirchweyhe 2.110, Syke 1.918, Bruchhausen-Vilsen 1.114, Hoya 1.088]. Die Sonntagsgottesdienste besuchen etwa 500 Menschen oder 6 % der Gläubigen [Brinkum 115 – 5,8 %, Kirchweyhe 131 – 6,2 %, Syke 113 – 5,9 %, Bruchhausen-Vilsen 54 – 4,6 %, Hoya 132 – 12,1 %. In Hoya war ein Ausreißer wegen einer Hl. Messe in polnischer Sprache.] Damit ist der Gottesdienstbesuch in unserer Pfarreiengemeinschaft auf dem Niveau des Dekanates Twistringen. Dort reicht es von 2,8 % in Diepholz bis 9 % in Twistringen.
Jedes Jahr treten etwa 100 Menschen aus der Kirche aus. Wenn ich die Beerdigungen hinzuzähle, dann verlassen etwa dreimal so viele Menschen die Kirche als durch Taufe, Übertritte oder Rücktritte in die Kirche aufgenommen werden. Im Jahr 2017 war das Verhältnis 41 : 150. Im Dekanat ist das Verhältnis: 117 : 474 oder etwa 1 : 4.
Wenn ich jetzt Filialleiter einer Bank wäre, müsste ich vermutlich unangenehme Fragen meiner Chefs beantworten. Natürlich diskutieren wir auch in der Kirche darüber, was denn los ist.
Manche meinen, die Kirche ist in vielen Dingen schlicht zu altmodisch. Wir diskutieren in der Kirche über die Zulassung von Frauen zum Priesteramt, über Sexualmoral, über die Ehe für Schwule und Lesben und über den Zölibat für Priester. Andere Kirchen haben diese Fragen längst „modern“ beantwortet. Doch dort sehen die Zahlen nicht sehr viel anders aus. Auch dort kommen nicht sehr viel mehr Menschen zum Gottesdienst und auch das Verhältnis der Zahl der Taufen zu Austritten und Beerdigungen sieht nicht viel besser aus. So wichtig und richtig es ist, dass wir diese Fragen diskutieren – von „modernen“ Antworten auf sie erwarte ich keine Trendumkehr.
Dagegen sehe ich zwei wichtige Entwicklungen.
1. Die Zeit der Volkskirche ist vorbei.
Früher waren fast alle Menschen eines Dorfes oder einer Stadt in der Kirche. Alle heirateten irgendwann kirchlich, sie ließen ihre Kinder taufen und sie wurden am Ende kirchlich beerdigt. Man ging zur Kirche und hielt sich zumindest äußerlich an die kirchlichen Gebote und Verbote. Das hat man nicht diskutiert und schon gar nicht kritisch in Frage gestellt. Wer nicht mitmachte, war ein Außenseiter, er oder sie gehörte nicht mehr dazu. Man war einfach Christ, evangelisch oder katholisch, weil das alle waren.
Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist alles viel bunter. Die kirchlichen Rituale wie Hochzeit, Taufe oder Beerdigung gehören nicht mehr zwangsläufig zum Leben. Sonntags haben viele Christen besseres zu tun, als einen Gottesdienst zu besuchen. Die Vorstellungen darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält, ob es einen Gott gibt und was der von mir will, gehen weit auseinander. Es ist im Gegenteil eher so: Wer bei so einem Verein wie der Kirche mitmacht, wer zum Gottesdienst geht, der muss sich immer häufiger erklären. Besonders wenn das dann noch diese altmodische katholische Variante ist.
Was sich verändert hat, können Sie selbst erfahren. Laden Sie die Familie oder Freunde oder Nachbarn zu einem festlichen Mittagessen ein. Früher war klar, was die Gäste essen und trinken. Mit Rinderroulade und Schokoladenpudding konnte man nichts falsch machen. Das hat sich gründlich geändert: Die einen essen nur Bio, andere sind Vegetarier und noch andere Veganer. Dann gibt es noch diverse Allergien und Unverträglichkeiten und sehr spezielle Essgewohnheiten.
Diese Entwicklung sehen wir überall. Schauen wir auf die sogenannten „Volksparteien“. Allein das Wort klingt ja fast so wie Volkskirche. Die Mitgliederzahl der CDU sank von 1990 bis 2016 von 790 Tausend auf 432 Tausend. Das entspricht einem Minus von 45 %. Die Mitgliederzahl der SPD sank im gleichen Zeitraum von 943 Tausend auf 433 Tausend. Das entspricht einem Minus von 54 %. Die Mitgliederzahl der SPD hat sich halbiert.
2. Die Menschen ticken heute anders
Früher konnte man einen Betrieb nach dem Meisterprinzip führen. Der Chef weiß alles, er kann alles und er zeigt jedem Mitarbeiter, was er wie zu tun hat. Das funktioniert heute nicht mehr.
In der Bank war ich Vorgesetzter von Menschen, die von ihrem Thema sehr viel mehr verstanden als ich. Der Leiter der EDV war studierter Informatiker. Der verstand von EDV definitiv viel mehr als ich. Trotzdem war ich sein Vorgesetzter, sein Chef.
Die Menschen sind heute selbstbewusster. Ihnen kann man nicht mehr einfach befehlen. Sie wollen Argumente hören, sie wollen überzeugt werden.
Sie wollen auch nicht einfach nur tun, was andere ihnen sagen, sie wollen selbst gestalten, sie wollen „sich einbringen“, wie man heute so sagt. Sie wollen, dass ihre Argumente gehört weden.
In der Organisation der Bank haben wir das unter dem Begriff „Wertewandel“ diskutiert. Dieser Wertewandel betraf sowohl die Mitarbeiter des Unternehmens als auch die Kunden.
In der Kirche sind diese Veränderungen noch nicht überall angekommen. Manche meinen, man könnte einfach so weitermachen wie bisher. Weil es immer weniger Priester gibt, machen wir einfach alles in größeren Einheiten. Doch auch im katholischen Emsland werden die Kirchen immer leerer, auch dort haben viele Gruppen, Vereine und Verbände Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden.
Deshalb: Die Kirche, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr lange geben. Die Kirche, in der sich Gläubige um einen Priester scharen und einfach tun, was der ihnen sagt; die Kirche, die dem Dorf oder der Stadt oder dem Land Vorschriften macht, wie etwas zu laufen hat, diese Kirche wird sterben, vielleicht ist sie auch schon tot.
Dafür sehe ich eine andere Kirche.
Wir werden eine Kirche in einer Gesellschaft sein, in der viele Kirchen, in der viele Sinnangebote und in der viele Weltanschauungen nebeneinander leben. Ob das verschiedene Konfessionen sind: katholisch, lutherisch, reformiert, baptistisch, neu-apostolisch, evangelikal. Ob das verschiedene Religionen sind: Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus oder ganz neue Religionen. Ob das religiöse Weltdeutungen oder a-theistische Weltanschauungen sind. Wenn wir friedlich zusammen leben wollen, dann müssen wir lernen, ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben. Wir müssen einen respektvollen Umgang pflegen und lernen, ohne falsche Angst zusammen zu arbeiten, um unsere Welt zu gestalten.
Wir werden eine Kirche sein, in der die Gläubigen mitbestimmen, in der sie ihren Glauben und ihr Leben selbst gestalten. Die Pfarrgemeinde St. Paulus in Syke * ist nicht die Gemeinde des Pfarrers. Sie ist nicht meine Gemeinde. Es ist die Gemeinde der Gläubigen, die ihn ihr wohnen. Es ist ihre Gemeinde. Der Pfarrer ist auch nicht eingesetzt als Herr über ihren Glauben. Der Pfarrer ist eingesetzt – ich bin eingesetzt – als Helfer zu ihrer Freude. Die Gläubigen werden sich mit ihren Chrismen und Diensten einbringen und das Leben in der Gemeinde mitgestalten. So wie sie das heute schon vielfältig tun: in den Gruppen und Vereinen, in den liturgischen Diensten, in den vielfältigen Diensten rund um Kirche und Caritas.
Im Herbst erfolgt eine wichtige Weichenstellung. Dann werden der Kirchenvorstand und der Pfarrgemeinderat neu gewählt.
Der Kirchenvorstand ist der rechtliche Vertreter der Gemeinde. Er verwaltet das kirchliche Vermögen, sorgt für die Erhaltung und Instandhaltung er Gebäude und Grundstücke und ist der Vorgesetzte der bezahlten Mitarbeierinnen und Mitarbeiter.
Der Pfarrgemeinderat trägt die Verantwortung für das, was in der Kirche und im Pfarrheim praktisch passiert. Er berät und untersetzt den Pfarrer und die pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er hat das Ohr in der Gemeinde und bringt die Themen auf den Tisch, die jetzt wirklich wichtig sind.
Die Gremien des Pfarrverbundes haben festgelegt, dass es ab dem Herbst wieder für jede Pfarrgmeinde einen eigenen Pfarrgemeinderat geben soll. Die Mitarbeit im Pfarrgemeinderat ist die große Chance, die Veränderungsprozesse in der Kirche mitzugestalten.
Hören sie in sich hinein! Ruft sie da jemand in diese wichtige Aufgabe für die Kirche Gottes? Sprechen sie auch gern andere Menschen an. Schauen sie dabei auch über den Tellerrand der Kerngemeinde hinaus, die sich Sonntags hier in der Kirche trifft. Sprechen sie über dieses Thema an allen Orten.
Mit ihrer Unterstützung werden wir einen guten Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat bekommen. Auf die Zusammenarbeit mit ihnen freue ich mich schon jetzt
* Der Name der Pfarrei wurde jedesmal ausgetauscht.
[Die Predigt habe ich gehalten am 4.8.2018 in der Pfarrkirche Maria, Königin des Friedens in Bruchhausen-Vilsen, am 5.8.2018 in der Pfarrkirche St. Michael in Hoya und in der Pfarrkirche Heilige Familie in Kirchweyhe und am 12.8.2018 in der Pfarrkirche St. Paulus in Syke. Für die Predigt hatte ich mir Stichworte notiert. Die hier nachträglich geschriebene Lesefassung der Predigt kann daher vom gesprochenen Wort der Predigt abweichen. Die Zahlen für das Bistum Osnabrück sind hier öffentlich zugänglich.]