Wir müssen reden

Wir müssen reden. Natürlich. Wir müssen auch diskutieren und im Zweifel müssen wir auch streiten. Gerade jetzt. Die Pandemie mit dem Coronavirus SARS-CoV-2, der die Krankheit Covid-19 verursacht, hat zu weit reichenden Einschnitten in das öffentliche und in das private Leben geführt.

Die Kontaktbeschränkungen machen Menschen krank. Das Gefühl der Einsamkeit. Die verschobene medizinische Behandlung. In Familien und Wohngemeinschaften brechen Konflikte auf, denen man nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Es fehlt Privatsphäre. Es kommt zu häuslicher Gewalt. Kinder in ärmeren Familien werden erneut zu Bildungsverlierern: Ihnen fehlt der Ort zum Lernen, ihnen fehlt die geeignete technische Ausstattung. Ihnen fehlt das soziale Umfeld, das den Lernerfolg sichert. In einem reichen Land wie Deutschland eigentlich unvorstellbar, aber: Es gibt Menschen, die hungern. Weil die Tafeln und öffentlichen Küchen geschlossen haben, weil die Schulspeisung fehlt. Es gibt Menschen, die keine Wohnung haben, in die sie sich zurückziehen können.

Zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen nehmen die Bundesregierung und die Länderregierungen Geldsummen in bisher unvorstellbarem Ausmaß in die Hand. Trotzdem werden viele Unternehmen diese Einschränkungen nicht überstehen. Mit Folgen für die EigentümerInnen und für die MitarbeiterInnen, mitunter mit Folgen für die Menschen in einer ganzen Region.

Öffentliche Diskussionen sind BürgerInnenpflicht

Darüber müssen wir reden. Sind die Maßnahmen angemessen? Was sind überhaupt die richtigen Maßnahmen? Passen die Hilfsangebote? Die Einschränkung von Grundrechten muss diskutiert werden, sie muss abgewogen werden. Ist das alles noch verhältnismäßig? Die Regierungen müssen Rede und Antwort stehen. Kontrolle von Macht war selten so wichtig wie jetzt.

Es ist aber nicht nur ein Recht, zu diskutieren. Es ist geradezu eine Pflicht, sich einzubringen. Denn je mehr Menschen mit ihrem jeweiligen Sachverstand und aus ihrer jeweiligen Perspektive sich beteiligen, um so besser kann das Ergebnis sein. Es gibt vielerlei Einschränkungen in diesen Tagen. Die Grundprinzipien unserer liberalen Demokratie sollten wir allerdings nicht einschränken und im Gegenteil sogar intensiver wahrnehmen.

Nehmen wir als Beispiel die Maskenpflicht. Da gibt es ja durchaus unterschiedliche Meinungen. Auch bei den Profis. Die Einschätzungen ändern sich. Auch bei Wissenschaftlern. Darüber müssen wir reden. Am Ende entscheiden und durchsetzen.

Viele Köche sind zuständig

Genau hier entsteht nach meiner Wahrnehmung derzeit ein Problem. Die „Seuchenbekämpfung“ und Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen sind Sache der Länder und zum Teil der Landkreise und Kommunen. Warum das so ist, hat Erik Flügge neulich in einem Beitrag auf Facebook gewohnt kurz und knackig dargestellt:

Weil viele fragen, warum wir in Deutschland unterschiedliche Regelungen in den Ländern haben, hier eine Information: 

* Es war eine bewusste Entscheidung nach der Erfahrung der Diktatur in Deutschland, die allgemeine Gesetzgebung im bundesweit von der ausführenden Institution zu trennen.

* Deshalb entscheidet in Deutschland zum Beispiel der Bund, welche Gesetze gelten und was eine Straftat ist. Die Polizei, die die Einhaltung dieser Gesetze überwacht, wird aber von den Ländern gestellt.

=> Auch wenn das ersteinmal schräg klingt, so ist das doch sehr vernünftig so. Denn keine Regierung in Berlin kann einfach ihren Willen ungehindert vor Ort durchsetzen. So schützt man eine freiheitliche Ordnung.

Quelle: Erik Flügge am 22.4.2020 in einem Beitrag auf Facebook: In allen Bundesländern ist die Maskenpflicht jetzt beschlossene Sache. Abgerufen am 23.4.2020 um 8:43 Uhr.

Jetzt leuchtet vermutlich jedem ein, dass diese Pandemie nicht nur eine Angelegenheit von Bayern oder dem Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen ist. Die Bekämpfung dieser Pandemie ist eine bundesweite Angelegenheit. Auch, wenn die Bundesregierung hier nichts zu sagen hat.

Verabredungen – ohne mich

Es macht daher Sinn, wenn die Bundesländer sich abstimmen und die Maßnahmen beraten. Jetzt kann man darüber streiten, warum denn ausgerechnet die Bundesregierung diesen Abstimmungsprozess moderieren soll. Das könnte auch jemand anderes: Die MinisterpräsidentInnen bestimmen z.B. jemanden aus ihrer Mitte. Oder der jeweilige Vorsitzende des Bundesrates übernimmt die Aufgabe. Kann man machen. Das ändert aber nichts am Prinzip: Die Landesregierungen stimmen sich bei ihren Maßnahmen ab.

Natürlich gibt es Unterschiede. Nicht alle Bundesländer liegen an Nord- und Ostsee und nicht alle haben Inseln. Es gibt HotSpots der Infektionen und Gegenden, in denen vergleichsweise wenige Menschen infiziert sind. Dabei werden dann auch unterschiedliche Einschätzungen deutlich. Die müssen diskutiert werden. Auch öffentlich diskutiert werden. Dann sitzt man zusammen und diskutiert und vereinbart am Ende eine Strategie und die verschiedenen Schritte zur Umsetzung dieser Strategie auf der Zeitachse.

Strategie – was ist das?

Diese Strategie muss kommuniziert werden. Die Menschen müssen wissen, was wann passieren soll. Ein Beispiel für eine mögliche Strategie wäre z.B. die Lageeinschätzung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) mit ihrem Vier-Phasen-Modell. Im Rahmen dieses Modells könnten dann konkrete Schritte zur Lockerung der Einschränkungen (im Vorschlag der DGKH wäre das der Übergang von Phase 1 zu Phase 2) vereinbart werden. In Verbindung mit den Empfehlungen der Leopoldina ließe sich daraus doch eine Strategie entwickeln…

Natürlich muss eine solche Strategie und Maßnahmenplan permanent überprüft und angepasst werden. Das ließe sich auch öffentlich vermitteln und muss natürlich diskutiert werden. Mein Problem mit der aktuellen Diskussion ist, dass ich eine solche Strategie und ihre Umsetzung gar nicht erkennen kann. Es scheint mir alles sehr von tagesaktuellen Ereignissen und Stimmungen getrieben zu sein. Das ist schlechtes Regierungshandeln!

Sollen die anderen doch tun was sie wollen – ich tue, was ich will!

Was wir seit der letzten Woche erleben macht mich jedoch geradezu ratlos. Am Mittwoch treffen sich die Bundeskanzlerin und Vertreter der Bundesregierung und die MinisterpräsidentInnen der Länder zu einer ihrer regelmäßigen Video-Konferenzen. Wie üblich, ist dieses Treffen vorbereitet worden. Ich war nicht dabei, doch ich vermute, dass verschiedene Maßnahmen diskutiert und am Ende vereinbart wurden. Vorschreiben kann da niemand irgendjemandem etwas. Wir Katholiken kennen das von der Bischofskonferenz. Alle MinisterpräsidentInnen sind in ihren Ländern frei zu tun, was sie für richtig halten.

Das tun sie dann auch. Armin Laschet entdeckt sein Herz für die Möbelindustrie und Malu Dreyer ihre Tierliebe. Hatte man am Mittwoch noch vereinbart, das Tragen von Schutzmasken zwar zu empfehlen, aber eben nicht vorzuschreiben, begannen die Länder schon am Donnerstag damit, in ihren Ländern eine Maskenpflicht einzuführen. Gestern, eine Woche später, gilt die Maskenpflicht in allen Bundesländern.

Das Versammlungsverbot in Kirchen, Moscheen usw. hatte man aus guten Gründen beibehalten. Am Freitag gab es eine Video-Konferenz mit Vertretern der Religionsgemeinschaften, dem Chef des Kanzleramtes und Vertretern der Staatskanzleien der Länder. Dort vereinbarte man ein Vorgehen: In dieser Woche sollte ein Konzept z.B. für christliche Gottesdienste entwickelt werden und in der Konferenz am 30.4. sollte eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob und wie Versammlungen in Kirchen wieder erlaubt sein sollen. Alle diese Vereinbarungen hindern die Länder jedoch nicht daran, für ihr jeweiliges Bundesland schon mal Fakten zu schaffen. Noch am Freitag wurde beschlossen und verkündet, dass ab Montag in Sachsen Gottesdienste erlaubt sein werden. Bis heute gibt es Regelungen in mehreren Bundesländern.

Ähnlich konfus die Ladenöffnungen. In der Konferenz hatte man sich darauf geeinigt, kleine Läden mit einer Fläche von bis zu 800 qm wieder zu öffnen. Der Grund dafür ist nicht die Erkenntnis, dass in kleinen Läden eine geringere Ansteckungsgefahr besteht als in größeren Läden. Der Grund ist die Sorge, dass die Big Player in den Städten und Einkaufszentren die Menschen in Scharen in die Innenstädte und in die Einkaufszentren locken würden. Kaum beschlossen, wurde dieser Beschluss in einigen Bundesländern wieder konterkariert: Jetzt dürfen Saturn und Kaufhof & Co. doch öffnen, wenn sie die Verkaufsfläche auf 800 qm begrenzen. Was für ein Unsinn! Damit lockt man die Menschen in die Städte und Einkaufszentren und verkleinert gleichzeitig die Fläche, in der sie sich aufhalten können. Leichtsinn in Tüten!

Das Prinzip Hoffnung

Am Ende entsteht der Eindruck, dass es weniger ein planmäßiges und sachorientiertes Vorgehen gibt sondern dass die Devise gilt: Wer am lautesten schreit, der bekommt was er will. Bei mir entsteht immer mehr der Eindruck, dass die MinisterpräsidentInnen der Bundesregierung und namentlich Angela Merkel und Jens Spahn einmal zeigen wollen, wer hier das Sagen hat. Sie lassen sich gar nichts vorschreiben und entscheiden selbst. So dumm können Menschen manchmal sein. Und so verantwortungslos.

Das tatsächliche Infektionsgeschehen kennen wir nicht. Es ist möglich und durchaus wahrscheinlich, dass sich das Virus unbemerkt weiter ausbreitet. Dann kommt es früher oder später zu einer erneuten Infektionswelle. Dieses Mal aber mit viel mehr Infektionsherden. Dann haben wir kaum eine andere Wahl, als erneut eine Vollbremsung durchzuführen. Das hätte man anders haben können.

Bleibt nur noch das Prinzip Hoffnung: Dass wir auch ohne Strategie und trotz willkürlicher Lockerungen und Öffnungen das Infektionsgeschehen begrenzen und unser Gesundheitssystem und damit Erkrankte schützen können. Es gab mal ein Experiment: Man hatte Affen mit Pfeilen auf Kurszettel der Börse werfen lassen. Die Aktien, auf die die Pfeile trafen, wurden gekauft. Nach über einem Jahr war das Portfolio der Affen erfolgreicher als die professionell gemanagten Portfolios der Vergleichsgruppe. Manchmal führt Chaos auch zum Ziel.

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