Zug um Zug

Samstag, 18. April 2020. Deutschland befindet sich noch im Lockdown. Geschäfte haben geschlossen, viele Menschen arbeiten zuhause oder gar nicht. Wir sind aufgerufen, zuhause zu bleiben und uns in der Öffentlichkeit nur zusammen mit den Menschen zu bewegen, mit denen wir auch in einem Haushalt zusammen leben. Ansonsten sollen wir Abstand halten und nur nach aus dem Haus oder der Wohnung gehen, wenn es notwendig ist. Einkauf, Arztbesuch, zur Arbeit. Social Distancing ist das neue Wort dafür.

Das Virus und die Krankheit

Der Grund dafür ist ein Virus. Das hat auch einen Namen: SARS-CoV-2, kurz: Coronavirus. Von diesem Virus wissen wir nicht viel. Vermutlich stammt es aus dem Mittleren China und ist dort vom Tier auf den Menschen übergegangen. Genau wissen wir das nicht. Von dort hat es seinen Zug um die Welt angetreten und ist inzwischen überall angekommen. Auch in Europa, auch in Deutschland.

Dieses Virus verursacht eine Krankheit, die wir Covid-19 nennen. Es ist eine Entzündung der oberen Atemwege mit geringen bis mittelschweren Symptomen wie Husten und Fieber. In einigen Fällen dringt das Virus in die unteren Atemwege vor und verursacht dort eine Lungenentzündung mit schweren bis schwersten Symptomen. Diese schweren Verläufe machen häufig eine intensivmedizinische Behandlung einschließlich künstlicher Beatmung erforderlich. Einige Menschen sterben im Zusammenhang mit dieser Lungenentzündung, doch die allermeisten Kranken mit intensivmedizinischer Behandlung überleben die Krankheit. Die Mortalitätsrate, d.h. die Zahl der Toten im Vergleich zu den bekannten Infizierten beträgt derzeit zwischen 3 und gut 13 %.

Das Virus ist hoch infektiös, d.h. es breitet sich schnell unter den Menschen aus. Ein Grund dafür ist, dass es bis zu 14 Tage dauern kann, bis ein Infizierter Symptome entwickelt. Während dieser langen Zeit kann ein Infizierter andere Menschen anstecken, ohne dass er selbst von seiner Krankheit weiß.

Wie das Virus genau übertragen wird, wissen wir nicht mit Sicherheit. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielt eine „Tröpfcheninfektion“ eine Rolle: Beim Sprechen, Niesen und Husten geben wir immer feinste Tröpfchen unseres Speichels in die Umgebung ab. Das lässt sich nicht verhindern. Diese Tröpfchen können das Virus enthalten und werden von umstehenden Menschen eingeatmet. Wie lange das Virus in der Luft überlebt und ob es auch in den feinsten Bestandteilen, den sog. Aerosolen enthalten ist, wissen wir nicht mit Sicherheit. Deshalb ist die wichtigste Regel zum Schutz vor Infektionen: Abstand halten! Mindestens 1,50 Meter!

Ob und wie lange das Virus auf Oberflächen überlebt, ist umstritten. Es ist aber denkbar, dass wir Coronaviren mit unseren Händen aufnehmen, wenn wir Dinge anfassen. Das allein ist jedoch noch nicht das Problem. Die Viren müssen nun von unseren Händen auf die Schleimhäute gelangen. Wenn wir uns mit der Hand ins Gesicht fassen oder wenn wir Dinge anfassen, die wir anschließend essen. Deshalb ist hier die wichtigste Regel: Regelmäßig mindestens 20 Sekunden die Hände gründlich mit Seife waschen. In jedem Fall vor dem Essen. Hände aus dem Gesicht!

Ende Februar und Anfang März haben wir in Deutschland beobachtet, dass die Zahl der Infizierten sprunghaft anstieg. Der Anteil der schweren Verläufe an der Gesamtzahl der Infizierten ist vergleichsweise gering. Die allermeisten Infizierten haben keine oder nur leichte Symptome der Krankheit Covid-19. Doch die absolute Zahl der Infizierten mit schwerem Verlauf wird bei einem rasanten Anstieg der Infektionen leicht so hoch, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr in der Lage ist, alle Patienten mit schwerem Verlauf angemessen zu behandeln. Diese Patienten werden dann sterben. So, wie wir es in Italien und Spanien erlebt haben. Deshalb standen und stehen die Maßnahmen der Regierungen unter dem Motto flatten the curve: die Zahl der täglichen Neuinfektionen muss gesenkt werden, so dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Das Ziel ist erreicht?

Das Ziel scheint nun erreicht zu sein. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sinkt, die sog. Reproduktionsrate sinkt unter den Wert von 1. Unser Gesundheitssystem hat „standgehalten“, d.h. alle an Covid-19 erkrankten Menschen konnten behandelt werden. Die aktuelle Entwicklung der Neuinfektionen lässt erwarten, dass das auch für die Zukunft gilt. Nun wird also alles gut?

Das ist ein Trugschluss. Denn das Virus ist nach wie vor da und es breitet sich auch weiter aus. Es wird auch weiterhin Menschen mit schweren Krankheitsverläufen geben und es werden weiter Menschen an den Folgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 sterben. Es gibt weiterhin keine Therapie und keine echte Behandlung der Krankheit. Es ist wie bei jeder Erkältung: Wir können Menschen beim Umgang mit den Symptomen unterstützen, doch wir können die Krankheit, d.h. das Virus, nicht ursächlich bekämpfen.

Therapie und Impfung

Mir ist nach wie vor unklar, mit welchen Argumenten Wissenschaftler in den Medien Optimismus hinsichtlich von Medikamenten und Impfungen verbreiten. Das Virus SARS-CoV-2 ist ein Virus und es teilt vermutlich die Eigenschaften fast aller Viren. Sonst wäre es kein Virus, sondern etwas anderes. Warum gibt es keine Impfung gegen Erkältung? Warum muss jedes Jahr ein neuer Impfstoff gegen Grippe gefunden werden? Denken wir an das Humane Immundefizienz-Virus (HIV). Wikipedia schreibt dazu:

„Für die HIV-Infektion gibt es bislang keine verlässliche, in der Praxis einsetzbare Heilungsmöglichkeit, und die Entwicklung einer wirksamen Impfung ist Teil der vielen Versuche, die fortschreitende Verbreitung des Virus einzudämmen. Es gibt zwar inzwischen Therapien wie die hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART), diese können jedoch lediglich die Viruslast herabsetzen und das Leben des Patienten auf diese Weise verlängern, eine Entfernung des Virus aus dem Körper wird dadurch jedoch nicht erreicht.“

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/HIV-Impfstoff, abgerufen am 18.4.2020, 9:38 Uhr

Was können wir tun?

Die Regierungen haben sich Mitte März zu einem massiven Schritt durchgerungen: Sie haben den sogenannten Lockdown verordnet. Das ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte jedes einzelnen Menschen und eine massive Belastung der Wirtschaft. Vordergründig geht es bei der Wirtschaft um Geld. Doch wir werden sehr bald merken, dass unser Lebensstil massiv davon abhängt, dass die Wirtschaft „funktioniert“.

Jetzt geht es darum, die Beschränkungen schrittweise zu lockern. Dabei ist sicher: Ein zurück zu den Zeiten „vor Corona“ kann und wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Die Abstands- und Hygieneregeln werden in jedem Fall eingehalten werden müssen.

Der Erfolg von flatten the curve ist der Erfolg einer Vollbremsung. Die Kollision wurde verhindert. Wenn wir jetzt wieder Vollgas geben, ist die nächste Kollision vorprogrammiert. Also müssen wir jetzt Zug um Zug die Regeln lockern und genau beobachten, welche Folgen das jeweils hat. Das wird für jeden Zug mindestens 14 Tage dauern. Es ist jetzt Aufgabe der Politik, einen Exit-Plan zu formulieren, der die jeweiligen Züge benennt und einen Zeitplan für jeden Zug angibt. Dazu gehören auch Angaben darüber, welche Maßnahmen dauerhaft verbleiben müssen. Dieser Exit-Plan darf nicht in Stein gemeißelt sein, sondern muss angepasst werden können, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Die Mehrzahl der Menschen wird guten Argumenten folgen, wenn der Plan geändert werden muss. Je länger die Politik mit einem solchen Plan wartet, desto unappetitlicher wird das Hauen und Stechen um die vermeintlich besten Plätze.

Herdenimmunität oder Aushungern?

Es wird immer wieder von der Herdenimmunität gesprochen. Wenn eine ausreichend große Zahl von Menschen infiziert war und gegen das Virus immun geworden ist, dann ist die Zahl der Neuinfektionen naturgemäß gering und damit zu verkraften. In Deutschland leben etwa 80 Millionen Menschen. Herdenimmunität ist erreicht, wenn 50 – 80 % der Menschen infiziert waren, also 40 bis 64 Millionen Menschen. Wenn etwa 1 % der Infizierten auch sterben, dann bedeutet das unter optimalen Umständen 400.000 – 640.000 Tote bis die Herdenimmunität erreicht ist. Wenn zu viel Menschen gleichzeitig erkranken, dann wird die Zahl der Toten noch höher. Im Optimalfall wird die Herdenimmunität in ein bis zwei Jahren erreicht sein können. Der Preis wäre hoch.

Eine Alternative heißt Aushungern. Die Beschränkungen müssen lang genug und massiv genug sein, so dass das Virus sich praktisch nicht mehr ausbreiten kann. Das war die Methode in China in der Provinz Wubei. Doch wird das auch in einem Land wie Deutschland mit seinen vielfältigen Beziehungen in alle Welt funktionieren? Wie lange würde das dauern? Zwei Monate, drei Monate oder gar ein halbes Jahr? Was passiert mit den Menschen in der Zwischenzeit? Wie werden wir danach weiterleben, wenn die Wirtschaft definitiv zusammengebrochen ist?

Risikogruppen sollen sich schützen

Es wird immer wieder vorgebracht, dass für bestimmte Menschen ein besonders großes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 besteht. Es wird dann vorgeschlagen, diese Menschen zu identifizieren und besonders zu schützen und alle anderen „freizulassen“. Eine auf den ersten Blick bestechende Idee.

Doch: Wer gehört zur Risikogruppe? Offensichtliche alte Menschen. Ab wann? Ab 60, ab 65 oder erst über 70? Doch auch jüngere Menschen gehören dazu: Asthmatiker, Diabetiker, … Wie sind sie zu identifizieren? Müssen sie abgesondert und isoliert werden? Wie lange?

Das größte Problem aber ist wohl, dass die Zahl der Menschen, die zur Risikogruppe gehören, zu groß ist. Knapp 18 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 65 Jahre, das sind fast ein Viertel oder 25 % der Bevölkerung. Wenn wir die Personen mit erhöhtem Risiko unter 65 Jahre dazu nehmen, dann sind wir schnell bei einem Drittel der Bevölkerung. Abgesehen von ethischen Überlegungen: Diese große Zahl lässt sich nicht wirksam von dem Rest der Bevölkerung isolieren.

Vorläufiges Fazit

Deshalb kann ich mich mit dem beschrittenen Weg anfreunden: Zug um Zug die Beschränkungen lockern und bei jedem Zug abwarten, was passiert. Die Auslastung unseres Gesundheitssystem im Auge behalten und auf neue Entwicklungen reagieren. Daran sollten wir festhalten, auch wenn nun alle eine Sonderbehandlung fordern: Wenn die, dann auch wir. Das gilt auch für die Kirchen.

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